Park im Wald

Es war der kühle Wind, der sie erfrösteln liess als sie durch den orange verfärbten Waldpark spazierte. Es war alles so friedlich, die Zeit schien hier still zu stehen. Keine Menschenseele weit und breit. Nur das Rascheln der Blätter war zu hören. Manchmal da wünschte sie sich nur allein zu sein, niemand, der ihr den letzten Atem raubte, niemand, der sie zu erdrücken drohte. Schon seit kleinauf hatte sie sich in der Stille und Ruhe geborgen gefühlt, unter Menschen fühlte sie sich öfters allein, als wenn sie tatsächlich allein war. Oft fragte sie sich, ob es an ihr lag, dass sie so anders war, oder ob sie die einzig normale war. Sofern man anders und normal so einfach definieren kann. Sie setzte sich auf der Bank vor dem Wald hin und blickte auf den leeren Park. Er war ausserhalb des Städtchens, oft geriet er deshalb in Vergessenheit. Was ihr nur recht kam. Früher war er Eigentum des Lords, der über diesen Ort herrschte, doch seit die neue Ära angebrochen hatte, gab es weder Lords noch andere Adelige. Es gab sie schon noch, nur hatte ihr Titel heute keine Bedeutung. So kam es, dass es im Park einen Brunnen gab und ein altes Viktorianisches Haus. Der Brunnen war überwuchert, das Haus war verlassen und hatte seine besten Tage hinter sich. Und doch strahlte dieser Ort etwas aus, das man sonst nirgendwo fand. Der Park hatte eine Seele und einen Charakter, der jeden in seine Arme nahm, der sich in Geborgenheit wiegen wollte.
Doch heute war es anders. Ihre Gedanken wurden unterbrochen durch das mulmige Gefühl in ihrer Magengrube. Ihre Eingeweide zogen sich zusammen, des Puls erhöhte sich und das Herz drohte ihren Brustkorb zu sprengen. Es war das erste Mal, dass sie so etwas hier an diesem Ort spürte. Sie schaute sich umher, konnte aber nichts ungewöhnliches erkennen. Und doch wusste sie, dass es Zeit war aufzubrechen, so schnell wie möglich. Sie stand auf und ging zum Weg, der in den Wald führte um nach Hause zu gehen. Er war kaum zu erkennen, so überwuchert war er schon. Der Pfad endete an einer Holztreppe, die bis ans Ende des Waldes reichte. Am Ende der Treppe blieb sie für einen kurzen Moment stehen und schaut hinauf auf den Weg, von dem sie gekommen war. Sie konnte das unwohle Gefühl nicht abschütteln, es hatte sie den ganzen Weg bis hierher wie ein wildes Tier verfolgt und noch immer schien es irgendwo im Gebüsch zu lauern und den perfekten Moment zum Angreifen abzuwarten. Schnell drehte sich um und lief auf dem Weg neben dem Waldrand zurück in die Stadt und zu ihr nach Hause.
Als sie zuhause hinter sich die Tür schloss, glaubte sie für einen Moment, sie hätte den Apfelkuchen ihrer Mutter gerochen. Doch ihre Mutter hatte schon lange nicht mehr die Küche betreten oder ein anderes Zimmer im Haus, ausser ihr Zimmer, das ihrer Tochter. Ihre Mutter hatte vom einen auf den anderen Tag die Zeichen einer Depression aufgewiesen. Sie verstand es immer noch nicht, wie so etwas mit so einer lebensfröhlichen und liebevollen Frau geschehen konnte. Da ihre Mutter sich in ihrem Zimmer einschloss und einquartierte, zog sie in das Gästezimmer. Immer wenn sie aus der Schule kam, machte sie einen Rundgang im ganzen Haus, weil sie Hoffnung hatte ihre Mutter vorzufinden, doch sie wurde immer enttäuscht. Sie war jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde, jede erdenkliche Zeit in ihrem Zimmer. Sie versuchte sich an diesen Umstand zu gewöhnen, die Ärzte haben gesagt, ihre Mutter hätte eine Post-Traumatische Störung erlitten, wobei sie ihr nicht sagen wollten durch was dies geschehen war, und sie bräuchte ihre Zeit. So hatte sie gelernt für sich selber zu sorgen, sie kochte, putzte, bezahlte die Rechnungen und sorgte für Ordnung in ihrem Alltag. Wenn sie an ihre Mutter hatte, bezeichnete sie sie als Mutter, aber es fühlte sich nicht mehr so an wie eine Mutter. Vor drei Monaten, einer Woche und vier Tagen war alles noch wie es sein sollte und dann war plötzlich alles anders. Die Zeit verging nicht mehr so wie sie es getan hatte. Sie schien nun unendlich zu sein, sie schritt nicht mehr voran aber blieb auch nicht stehen. Nun verstand sie Einsteins Relativitätstheorie. Die Zeit war relativ, sie war sehr wohl abhängig von der Gravitation. Und nun konnte sie es spüren.

Fortsetzung folgt >>


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