Der offene Käfig
Sie war das Mädchen, das gefangen war in einem Käfig, der
kein Schloss trug.
Braune Haare, braune Augen, bleiche Haut. In einem kleinen
Dorf mit Kühen und Tratschtanten.
Jedes Jahr sehnte es sich nach dem Herbst. Die Blätter
verloren ihre Grüne Farbe, sie gewannen an Mut und liessen den Baum mit mächtigem Kriegsgeschrei los, den sie zu lieben glaubten.
Es war manchmal so als würde die Ferne zu ihm flüstern,
sodass nur es sie hören konnte. Sie rief nach ihm. Manchmal da spürte das
Mädchen sogar das Ziehen und merkte, dass kaum etwas daran entgegen zog.
Das junge Mädchen wuchs zu einer jungen Frau heran. Das Ziehen
wurde immer wie stärker und der Herbst mit seinen Kriegern immer wie lauter. Die Ferne schien nun
so nahe, dass sie sie regelrecht spüren konnte. Immer wie fester wurde sie gezogen, sodass sie immer wie häufiger hinfiel. Die Tränen kullerten ihr über
die Wangen beim Aufstehen. Weinte sie weil die Ferne sie zog oder weil sie sie
ihre Hand schliesslich doch losliess? Eigentlich wusste sie die Antwort.
Die junge Frau wurde erwachsen. Mit der Zeit hatte die Ferne
an Stärke vom ständigen Ziehen verloren. Sie war erschöpft. Den Herbst hörte sie kaum noch wegen
des falschen Gelächters im Frühling.
Die erwachsene Frau wurde alt und hörte den Herbst besser
als je zuvor. Ihre beste Freundin, die Ferne, stattet ihr kaum noch Besuche ab.
Allmählich hatte sie sie vergessen. Sie war sich nun sicher, warum sie geweint
hatte. Sie hätte Fernes Hand nie loslassen sollen.
Sie war die alte Frau, die gefangen war in einem Käfig,
dessen Tür speerangelweit offen stand.
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